Über Foodmarket-Treiben und innere Leere
Samstags in Mitte. Food-market, der x-Hundertste. Die Spreewerkstätten immer wieder bunt und schön, trotz Sommerloch und Touri-Überschaum. Essen als Event. Der Rausch der Geschmäcker. Im Lärm. Heiss. Stickig. Gespannt. Im Gang, zwischen dem Geschiebe, denke ich an die letzten Gespräche/ Beratungen mit jungen Frauen. Was immer wieder auftaucht: gefühlte Leere und das Bedürfnis, sich zu füllen. „Binge“: das Gelage, sagt Wikipedia. Sich füllen im Kontrollverlust. Um voll zu sein. Was ist hier los, um mich herum? Eine Meute im Konsumhimmel? Oder Genusstouristen? Um mich ist Strom. Menschen-Essen im Strom. Essen gegen die Leere? Wie mit ihr umgehen? Wie sie wirklich fühlen und überwinden? Und: ist Atmen am Schluss nicht doch alles?
Was ist das eigentlich mit “Binge” und dieser Leere. Mit Anfang zwanzig waren wir mit dem Abebben von Bulimien beschäftigt – heute fürchten vor allem Frauen in den Dreißigern das “Overeating”. Oft liegen symptomfreie Jahre zwischen diesen beiden Essstörungen. “Binge Eating Disorder” ist meist unsichtbar, muss nicht zwangsläufig zu Dickleibigkeit führen. Heute hängt „Binging“ wie drohend über muskulösen, aufrechten Yogakörpern, dringt verstohlen aus den Mündern sonst strahlender Frauen, irgendwo zwischen Chiapudding und Yogamatte. Um zehn Uhr `nen Matcha-Smoothie, zum Mittag Quinoasalat irgendwann überkommt sie einen doch: die Leere, the Void. Emotionale Spannung. Gefühlte Einsamkeit. Heimliche Unsicherheit. Auch Unverbundenheit mit sich und dem dort draussen. Es braucht nicht mal Essen in Gemeinschaft, um die Zügel dieser Sucht zu spüren. Esssüchtige haben individuelle magische Grenzen, in denen das „Binging“ einsetzt. Als Begleiterin dient die beständige Angst vor dem Strudel im Kopf: von kontrollierter Enthaltsamkeit zum zwangsgesteuerten Ess-Anfall. Essen um zu fühlen, zu füllen. Killing or kissing the Void?
Ich lehne mit dem Rücken an kühlem Metall, im Mund schmilzt Avocado-Creme auf meiner warmen Zunge. Vor mir breitgeschulterte Männer in engweissen Shirts, die sich mit grossen Zalando-Tüten durch die Gänge drängeln. In meinem Gesicht die Achsel von so nem Typ, der ein food-selfie macht.
Overeating als “Einbrechen” – in unseren kontrollierten bio/vegan/raw/Welten. Der perfektionistische Drang zur andauernden Selbstoptimierung gestattet keine Harmonie, keinen Frieden mit dem Körper, so, wie er ist. Die Leere dahinter hat eine Stimme, die ersticken will. Sie verlangt, laut, zerrend, benebelnd. Die Schöne Neue Welt loslassen, hinein ins alt-vertraute, gewohnt gefühlte. Schnell zum Kaisers und hoffen, dass einen keiner sieht, an der Kasse schon ein Snickers im Mund. Der Strom geht weiter; draussen gleich die MagnumMandel Eistüte gierig aufreissen und dann zum Pommes bestellen an den Schlesi huschen. Mit 2x Majo bitte.
Der Zucker wirkt jetzt. Mit Rausch. In die Leere dringt aber nicht Gefühl, nicht Wärme, sondern Overload. Das überforderte System: von Rawfood auf Fastfood, von Kokosblütenzucker aufs schnelle, weisse Glück. Overload liegt jenseits der Sättigung, er killt die Leere, überwindet sie aber nicht – betäubt sie bloss.
Unausweichlich kommt der Morgen danach: schlimmer als jeder Kater. Nach dem Schlingen bleiben nicht Erinnerungen einer bunten, wilden Nacht, sondern nur Trägheit. Ohnmacht. Scham.
Avocadocreme schmilzt in mich hinein. Darunter liegt Crunch. Knusprige Nüsse, karamelisiert. In mir ist süß und warm. Ich halte an. Verbinde mich mit meinen Sinnen, ich bin verwoben mit goldenem Genuss. Mit Substanz. In Zeitlupe schmecke ich alle Geschmäcker, die meine Zunge bewohnen. Ich atme. Über die Nase in den Brustkorb hinein. Darin liegt: ein offenes, schauendes Herz. Sitz des Selbst. Ich spüre den Atem in meinem Bauch. Wie er sich hebt und senkt. Meine Bauchdecke. Von innen. Warm. The Void? Falls sie da war, ist sie verwischt. I kissed the Void. Durch das Atmen in den Augenblick hinein. Und noch mal, einen Augenblick danach.